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Peter Jan Marthé - „KLANGDOM DER HEILIGEN HILDEGARD“

Und ich sah ein ganz und gar lichtdurchstrahltes Gewölk In ihm hörte ich auf wunderbare Weise eine Musik wie ich sie bisher niemals vernommen hatte

HILDEGARD VON BINGEN

Der zündende Funke zur Komposition des Oratoriums „KLANGDOM DER HEILIGEN HILDEGARD“ war mein über die Jahre hinweg höchst ambivalentes Verhältnis zu dieser Frau, das irgendwann zum inneren Befreiungsschlag führen musste. Hildegard von Bingen (1098-1179), diese große, widersprüchliche Heilige, Heilkundige, Medium, Prophetin, streitbare Theologin, selbstbewusste Visionärin, phänomenale Künstlerin wie auch scharfzüngige „Beraterin“ von Päpsten und Königen. Etwa neunhundert Jahre nach ihrem umtriebigen irdischen Leben ist sie, die sich selbst gerne als „Posaune Gottes“ zu titulieren pflegte, aktuell wie nie zuvor. Aber nicht wegen ihren weithin geschätzten Rezepturen von Dinkel- Gewürzkeksen, Gemüsefastensuppen, Petersilien-Honig-Herzwein-Tinkturen.

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So gut wie unbekannt ist Hildegard als Autorin zweier epochaler, medial empfangener Schriften. „Wisset die Wege“ sowie das „Buch der Göttlichen Werke“, in denen die Seherin abgrundtiefe Geheimnisse über die wahre Bestimmung des Menschen wie der gesamten Schöpfung offenlegt. Während schon damals klerikale Machtgelüste, Korruption und dogmatische Bunkermentalität der Kirche zu einem bedrohlichen Verblassen des jesuanischen Erbes führte, setzt sie als zukunftsweisende Prophetin auf den Glanz der authentischen Gotteserfahrung in der konkreten Schöpfung.

Aber je mehr ich mich in das visionäre Werk Hildegards vertiefte, desto stärker vernahm ich darin einen mich irritierenden „Unterton“. Zwischen den faszinierenden Urbildern, die sie schaute und den diesen Bildern unterlegten, „interpretierenden“ Texten klaffte ein kaum zu überbrückender Riss. Der Widerspruch sollte sich relativ bald von selbst erledigen. Ich entdeckte nämlich, dass diese überaus katholisch frommen Texte auf Betreiben ihres damaligen theologischen Assistenten und listenreichen Mitstreiters Volmar erst viel später quasi als erklärende „Audio-Spur“ zu den kühnen Bildern hinzugefügt wurden. Auf diese Weise sollte der gewaltige Sprengstoff dieser Werke entschärft werden, um sie dem vernichtenden Zugriff der argwöhnischen, stets wachsamen Glaubenswächter zu entziehen.

Und so erlernte ich bei Hildegard schnell eine andere Art des Lesens. Wer Ohren hat, der höre. Hatte uns dies nicht schon längst der Meister aus Nazareth nachdrücklich ans Herz gelegt? Wer Ohren hat, der höre die Musik zwischen den Zeilen. Natürlich spitzten besagte misstrauische Hüter der reinen Lehre damals (wie auch heute noch) ständig ihre Ohren. Jedoch ihr Pech, o weh? Sie sind unmusikalisch. Daher konnte die listenreiche Seherin, die nur zu genau wusste, was sie wollte, unbesorgt ihre geheime Message gleichsam siebenfach versiegelt in ihrem Werk verbergen, bis die Zeit gekommen sein würde. Stoff genug also für ein provokantes „Hildegard-Oratorium“.

Hildegard Klangdom Brixen 2015 017Musikalisch habe ich dabei bewusst auf die traditionelle Form des „Oratoriums“ in seiner ursprünglichen Gestalt zurückgegriffen. „Oratorium“ hatte anfangs mit „Beten“ wie auch mit einem „Raum des Gebetes“ zu tun, bis sich schließlich eine gleichnamige, spezifische Kunstform daraus entwickelte. Dementsprechend wurde in einem „Oratorium“ zur religiösen Erbauung des Auditoriums vom „Erzähler“ eine spirituelle Story feierlich rezitiert oder gesungen, während Solisten, diverse Instrumente und oftmals auch ein Chor kommentierend bzw. meditierend in den Ablauf eingriffen.

Das erste prominente Stück dieser Art, das wir kennen, stammt übrigens von niemand Geringerem als der heiligen Hildegard selbst. Das Gesamtkunstwerk „Ordo virtutum“. Das Reigenspiel der kosmischen Kräfte. Den zentralen Inhalt des vorliegenden Werkes bildet ein fiktiver Brief der heiligen Hildegard an einen ihr damals noch „unbekannten Adressaten“. Besagter, von der göttlichen Vorsehung auserwählter Adressat würde irgendwann einmal ihr bestens verstecktes „Geheime Testament“ entdecken, wenn sie selbst „schon längst in ihre himmlische Heimat zurückgekehrt sein würde“. Sie wird den unbekannten Finder vor ihren Karren spannen und ihn zu ihrem „Sprecher“ machen. Mehr noch - zu ihrem Verbündeten. Ja, sie schreckt auch nicht davor zurück, ihn sogleich zärtlich mit „Volmar, mein geliebter Sohn“ anzusprechen.

In Erinnerung an ihren ehemaligen, viel zu früh verschiedenen Sekretär Volmar. Engster Vertrauter, Verbündeter, Beichtvater, mit allen Wassern gewaschener Berater, heißblütiger Mitstreiter und vor allem der gefinkelte Drahtzieher, ohne dessen wirkungsvolle Interaktionen die Welt höchstwahrscheinlich nie etwas von einer „Hildegard von Bingen“ zu hören bekommen hätte. Es ist in der Tat eine atemberaubende Message, die sie als Medium in ihren Visionen empfangen hatte und einer damals wie heute verheerenden, kurzsichtigen, die Menschen irreführenden, materialistischen Weltanschauung mit ungeheurer Wucht entgegenschleudert.

In grellen Farben malt sie die Gefahr einer fatalen Entwurzelung des Menschen, vor deren Folgen uns weder ein in Höchstblüte stehender Wellness-Wahn noch der tägliche Fitnesslauf retten kann. „Bedenke nur, woher du gefallen bist.“ Offb. 2,5. Wie schmerzlich musste Hildegard die Einsicht getroffen haben, dass der gefallene Mensch durch die trickreichen Machenschaften des göttlichen Widersachers seine wahre Herkunft völlig vergaß; ja dass dieser auch mit allen Mitteln zu verhindern gedenkt, mit etwas in Berührung zu kommen, das eine unbekannte, tiefe Sehnsucht wecken könnte. Wenn dann auch noch der Kirche als der Bewahrerin des jesuanischen Erbes mehr und mehr der Zugang zur lebendig sprudelnden Quelle des Lebens abhandengekommen und dadurch ihre Spiritualität wie auch ihre Liturgie längst zu einer rein profanen Sozialethik-Agenda rapide verblasst; und wenn dann die in Scharen das sinkende Schiff verlassenden Gläubigen sich gezwungen sehen, sich anderwärtig umsehen zu müssen - dann ist die Zeit der Offenlegung des „Geheimen Testaments der heiligen Hildegard“ gekommen.

Die musikalische Sprache ist ganz der Konzeption des Werkes untergeordnet. Das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Welten erfordert den Einsatz differenzierter Stile. So findet die archaische Welt des Glaubens musikalisch ihren Ausdruck in den mittelalterlichen „Organa“. Monumentale Harmonien aus Quinten, Quarten und Oktaven verleihen den elementaren melodischen Verläufen eine Aura zeitloser Wucht, Größe und Weite. Die „Musik der Engel“ basiert auf einer originalen Melodie der heiligen Hildegard, die wie ein roter Faden das Werk durchzieht. „O nobilissima viriditas“. Kennzeichnend für die rein diatonische „Musik der Engel“ ist im Gegensatz zur „irdischen Musik“ der Umstand, dass sie ohne Text nur auf dem Vokal „A“ intoniert wird. Engel singen keine „Lieder“ wie die Menschen. Sie erschaffen tönend „Kraftfelder“, auf die sich die Menschen, falls sie es wollen, einschwingen können. Einen scharfen Kontrast bildet dazu die „Musik“ des Teufels, dem es laut Hildegard aufgrund seiner abgrundtief verderbten Bosheit nicht gegeben ist, singen zu können und daher nur Gekrächze und Kreischen seinem Munde entströmen könne.

Hildegard Klangdom Brixen 2015 013Ein infernalisches Getöse, angestimmt angesichts der Tatsache, dass es ihm gelungen ist, einen erheblichen Teil der Menschheit dazu zu bringen, nur das für wahr und existent zu halten, was sie sehen und greifen kann. Hildegard ihrerseits denkt nicht daran, dem perfiden Widersacher das Terrain zu überlassen. Hatte ihr doch der Allerhöchste eine Wunderwaffe in die Hände gelegt, welcher der Erzschurke und göttliche Widersacher kaum etwas Nennenswertes entgegenzusetzen hat. Oder vielleicht doch? Es geht nicht um irgendeinen nebulosen „Zauber“ der Musik. Gefragt ist der Zauber der Musik, der allein den Schimmer einer Wiedererinnerung im Menschen an seine meist vollständig ausgeblendete Urheimat entfachen kann. Und jetzt ist die große Seherin, Prophetin, Künstlerin Hildegard ganz in ihrem Element.

Hat nicht Gott selbst über das uranfängliche KLANGWORT die Schöpfung ins Dasein gesungen? Ist nicht alles, was geschaffen ist, KLANG? Ist nicht Gott selbst KLANG? Und deshalb kommt der Musik allein die Aufgabe zu, den gefallenen Menschen über die Himmelsleiter der Töne, Klänge, Harmonien zu helfen, sich zu seiner ursprünglichen Bestimmung – der „Gott-Ebenbildlichkeit“ zu erheben. Gott ist der einzig wahre und zugleich der größte Künstler. Und der Mensch ist nur deshalb „göttliches Ebenbild“, weil ihm die höchste Kraft anvertraut wurde, die göttliche Schöpferkraft.

Diese atemberaubende, nie versiegende schöpferische Kraft offenbart sich im Kleinsten wie im Größten. Ob nun eine Bergbäuerin ein neues Rezept für leckere Kräuterknödel kreiert, ein buddhistischer Mönch einen unsagbar schönen Zen-Garten anlegt oder Bach seine ungeheure „Hohe Messe“ komponiert. „Und also hat es dem allerhöchsten feurigen Geist gefallen den Menschen wieder eine Brücke zu Gott zu bauen zu Gott dem einen Vater allen Seins, den kein Tempel, keine Synagoge, keine Kathedrale und keine Moschee für sich allein einzusperren das Recht sich anmaßen könnte.“ So lädt uns Hildegard schließlich ein – der Höhepunkt dieser Aufführung! –, uns geschwisterlich zusammenzufinden, um gemeinsam singend, betend und feiernd mit der „Unendlichen Melodie der tönenden Schöpfung“ einen das Herz erhebenden, gewaltigen „Dom der Klänge“ zu bauen.

SURSUM CORDA. So wurde uns in der alten Mess-Liturgie vor dem „Hochgebet“ noch zugerufen. Erhöht drastisch eure Herz-Frequenz. Der Schlüssel zur „Himmelfahrt“. „Klangdom der Heiligen Hildegard“, so der Titel dieses Werkes. Nicht: „IM Klangdom“. Auch nicht „DER Klangdom“. Das Wort „Klangdom“ bezeichnet eine spirituelle Dimension, die man weder betreten noch besitzen kann. „Klangdom“ ist ein spiritueller Zustand. Ein Tor zum Himmel. Musikalisch umgesetzt durch extrem lang ausgehaltene Töne oder auch durch die gigantische Aufschichtung eines einzigen Akkordes.

„Klangdom“ ist letztlich ein von Hildegard übermitteltes Geschenk des Himmels an uns, das nur ganz persönlich tief erlebt wird. Oder auch nicht erlebt wird. Entweder du bist drinnen oder du bist draußen, heißt es im Kultfilm „Matrix“. Der Meister aus Nazareth hat das gleiche etwas subtiler auf den Punkt gebracht. Wer anklopft, dem wird in dem Maße aufgetan, WIE derjenige anklopft. Das bedeutet im Klartext: wer etwas erleben will, der muss sich auch aktiv beteiligen. So ist das anwesende Publikum nachhaltig angehalten, die Schranken der passiven Musikberieselung mutig zu überspringen und mit voller Stimme einzutauchen in Hildegards Vision von der „Großen kosmischen Symphonie“, in der alle Wesen der Schöpfung – sichtbar wie unsichtbar – tönend ihren Platz haben.

Alles was Odem hat, stimme ein in den Preisgesang. Odem, nicht Atem. Odem. Od oder auch Qi. Der göttliche Lebensfunke. Die „grünende“ Lebenskraft der heiligen Hildegard, die allem innewohnt und danach strebt, sich auf einzigartige, niemals wiederholbare Weise zu entfalten. Von der Blumenblüte bis zum Megastern. Von der quirligen Weise einer Amsel bis zum berauschenden Flügelschlag eines Pfauenfalters. Vom Trällern eines Kindes bis zum Gesang der Cherubim.

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